Die Idee zu diesem Fotoprojekt „Zwischen den Zeiten“ entstand nicht zufällig. Derzeit hat Oxana Guryanova kaum die Gelegenheit, ihre Heimatstadt und ihre Verwandten ohne unzählige Hindernisse zu besuchen. Der Schmerz über den Verlust ihres Vaters, der im Herbst 2021 plötzlich verstarb, lässt nicht nach, sondern verstärkt sich nur. Dies wird zusätzlich dadurch verschärft, dass sie aufgrund des Krieges nicht mehr frei, spontan und ohne Überlegungen in das Heimatland fliegen kann. Sie kann nicht fliegen, um ihre Mutter und ihren Bruder zu umarmen. Sie kann nicht zum Grab ihres Vaters gehen, um bei ihm zu sein und in Gedanken mit ihm zu sprechen. All dies wäre im realen Leben derzeit zwar noch möglich, ist aber mit großem Aufwand verbunden.
Doch Oxana hat einen Weg gefunden. Dank der Fotografie, die ihr immer wieder neue Türen öffnet und ihr die Möglichkeit gibt, Grenzen zu überwinden, ist es ihr gelungen, dorthin zu gelangen, wo es ihr im Hier und Jetzt unmöglich erscheint. Neue Technologien wie Remote Photography mit Shutter App Studio sowie altbewährte Methoden, wie das Nutzen von Bildern aus Familienalben und das Scannen von Filmen im Labor, ermöglichten es ihr, virtuell in ihre Heimatstadt zu „reisen“. Sie unternahm einen Spaziergang durch den Park, in dem sie sich als Kind mehrfach die Knie verletzt hatte, besuchte ihren Kindergarten und den Schulhof. Sie bewunderte die Winterlandschaften der Volga und betrachtete erneut das alte Plattenbauhaus, in dem sie mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht hatte.
Das Schlüsselwort ist „virtuell“. Diese Reise wurde dank der Menschen möglich, die trotz der innovativsten Techniken die wichtigsten Akteure des Projekts blieben. Ihre Freundin, mit der Oxana über Messenger kommunizierte und die alle Aufnahmen im Detail besprach, war ihre rechte Hand und das Stativ in einem, das ihr ihre jetzige Heimatstadt zeigte. Ihre Mutter fotografierte Familienfotos mit ihrem Handy und führte sie damit in die Vergangenheit – in eine Zeit, in der alle lebten und gesund waren und es keinen Krieg gab.
Oxana befindet sich immer noch irgendwo zwischen dem Hier und Jetzt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Aber der Schmerz scheint nachzulassen. Oder scheint es nur so?